18

[301] Am andern Nachmittag erschien plötzlich Felix Imhof im Hotel. Er schickte Judith seine Karte und wartete in der Halle, das dünne Spazierstöckchen im Auf- und Abgehen nachlässig schlenkernd, die Negerlippen zum Pfeifen gespitzt, das Hirn beladen mit Gedanken an Geschäfte, Spekulationen, Kurszettel, hundert Beziehungen und hundert Verabredungen. Aber sooft er an dem großen Glasfenster vorüberkam, warf er neugierige und lachende Blicke auf die Straße, wo sich zwei Knaben balgten.

Bisweilen nur verfinsterte sich sein Gesicht, und ein Krampf überflog es.

Der Boy meldete, die gnädige Frau lasse bitten.

Judith empfing ihn verwundert. Er begann sofort mit Eifer auf sie einzureden. »Ich habe in Liverpool zu tun und wollte dich noch mal sehen,« sagte er. »Es sind so viele Leute gekommen, die Anliegen an dich hatten; du wurdest eingeladen, man hat telephoniert, die Modistin war da, es kamen Briefe, ich wußte mir nicht zu helfen. Ich kann doch nicht jedem auf die Nase binden: meine Frau hat sich soeben französisch empfohlen für immer. Da ist dies und jenes; du mußt mich informieren, sonst gibts Verwirrung.«

Sie sprachen eine Weile über die Belanglosigkeiten, von denen er behauptete, daß sie ihn hergeführt. »Heute morgen war ich noch in Audienz beim Regenten,« erzählte er; »er hat mir gestern den persönlichen Adel verliehen.«[301]

Judith errötete und hatte den Ausdruck einer Hypnotisierten, die sich an den Wachzustand erinnert.

Felix Imhof beklopfte mit dem Stöckchen seine klassisch gebügelte Hose. »Verzeih die Kritik,« sagte er, »aber meines Erachtens war die Sache besser anzupacken, als wie du sie behandelt hast. So Knall und Fall das Weite zu suchen, nee, das war nicht das Richtige. Eigentlich ein bißchen unter dem Niveau. Eigentlich nicht ganz fair.«

»Unvermeidliches muß schnell geschehen,« erwiderte Judith achselzuckend; »übrigens hat ja deine Seelenruhe nicht besonders darunter gelitten, wie ich merke.«

»Bah, Seelenruhe; das kommt gar nicht in Frage.« Er stand, nach seiner Gewohnheit, mit gegrätschten Beinen, wiegte sich und betrachtete seine glänzenden Lackstiefel. »Seelenruhe, was hat das damit zu schaffen? Aber wir sind ja Leute von Kultur. Ich bin kein Tiger, ich bin kein Philister. Welche Menschlichkeit fände mich unzugänglich? Du kennst mich eben nicht. Was mich freilich nicht erstaunt, denn wie und wo und wann hätten wir uns kennenlernen sollen? Die Ehe gab uns keine Gelegenheit dazu. Wir müssen das nachholen. Gestatte mir, diesen Wunsch in mein neues Junggesellenleben hinüberzuretten. Versprich mir, daß du mich künftig nicht so planvoll meiden wirst wie während der acht Monate unsres Zusammenlebens.«

»Wenn dir daran liegt, mit Vergnügen, lieber Freund,« antwortete Judith gutgelaunt.

So schieden sie voneinander.

Eine Stunde später saß Felix Imhof im Eisenbahnzug. Er starrte mit hervorquellenden Augen in die Landschaft, bis es finster wurde. Ihn verlangte nach Gesprächen, nach Wortgefechten, nach Entladungen. Mit verzogener Stirn musterte er die fremden Menschen, die nichts von ihm wußten, nichts von seiner Fülle, seinen umwälzenden Ideen, seinen weitgreifenden Plänen.[302]

In Düsseldorf verließ er den Zug. Er hatte sich in letzter Minute hiezu entschlossen. Sein Handgepäck gab er zur Aufbewahrung, dann ging er durch mitternächtig düstere, alte Straßen, mit gebauschtem Mantel, hager.

Vor einem uralten Gebäude blieb er stehen. In diesem hatte er seine Jugend verlebt. Alle Fenster waren schwarz. »Hallo, Junge!« schrie er zu einem Fenster hinauf, hinter welchem er einst geschlafen hatte. Es echote von den Mauern. »Hallo, Junge, du Ohnename, wo kommst du eigentlich her?« sprach er. Er pflegte oft von sich zu sagen: »Ich bin von dunkler Geburt wie Caspar Hauser.«

Aber ihn drückte kein Geheimnis, nicht einmal das der unbekannten Herkunft. Er war ein Geheimnisloser, ein Aufgerissener, ganz neunzehnhundertfünf.

Er betrat ein Haus, zu dem er den Weg wußte seit den Gymnasialzeiten. In einem Saal, dessen Wände mit verschmierten Spiegeln bedeckt waren, befanden sich fünfzehn bis zwanzig halbentkleidete Mädchen. Er setzte sich in Hut und Mantel ans Klavier und spielte dilettantenhaft rauschend.

»Mädels, ich habe einen Zorn in mir,« sagte er. Und die Mädchen trieben Schabernack mit ihm, indes er spielte. Sie hingen ihm einen purpurroten Schal um die Schultern und tanzten um ihn herum.

»Ich hab einen Zorn in mir, Mädels, ich muß ihn hinunterspülen,« sagte er und ließ Sekt auftragen, daß sich der Tisch bog.

Die Türen wurden versperrt. Die Mädchen jauchzten.

»Tut etwas, um meinen Gram zu mildern, Mädels,« forderte er sie auf, stellte ihrer ein halbes Dutzend in eine Reihe, befahl ihnen, den Mund zu öffnen und steckte jeder einen Hundertmarkschein, wie eine Zigarette gerollt, zwischen die Zähne. Sie erstickten ihn schier mit Liebkosungen.

Und er trank, bis er die Besinnung verlor.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 301-303.
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